top of page

Misshandlung: Kleinkinder sind gefährdeter

Bei 46 Prozent der Misshandlungsfälle sind Kinder jünger als sechs Jahre alt. André Baeriswyl-Gruber vom Kinderschutzzentrum St. Gallen spricht im Interview darüber, wie Misshandlung erkannt werden kann und weshalb bei kleinsten Anzeichen reagiert werden sollte.

Quelle: Liechtensteiner Vaterland

Interview: Manuela Schädler*


Sie arbeiten beim Kinderschutzzentrum St. Gallen. Wo wird beim Kindesschutz in der frühen Kindheit der Fokus gelegt?

André Baeriswyl-Gruber: Unter früher Kindheit verstehen wir die ersten vier Lebensjahre. Als Kinderschutzzentrum beraten, informieren und unterstützen wir Kinder und Jugendliche direkt. Im Kontext der frühen Kindheit ist aber ganz besonders wichtig, dass Eltern, Angehörige und Drittpersonen sowie Fachpersonen mit einbezogen werden. Bereits ein ungutes Bauchgefühl, dass etwas nicht stimmen könnte, sollte ernst genommen werden. Gerade bei kleinen Kindern ist es nie zu früh, um sich Unterstützung zu holen. Je jünger die Kinder sind, desto eher muss rasch reagiert werden: Anzeichen früh erkennen, systematisch einschätzen, bei akuter Gefährdung reflektieren, geplant und schnell handeln. Interventionen sollten, wann immer möglich, in Absprache mit spezialisierten Fachstellen Kindesschutz abgesprochen sein.


Wie wichtig ist Kindesschutz in den ersten Lebensjahren?

Kleine Kinder sind häufiger einer Misshandlung ausgesetzt als ältere Kinder. Sie sind in hohem Mass von ihren Bezugspersonen abhängig und ausgesprochen verletzlich. Dies gilt für körperliche wie auch psychische Gewalt und Vernachlässigung. Oft befinden sich die kleinen Kinder in der Anonymität der Familien, wo es Dritt- oder Fachpersonen noch nicht oder nur bedingt möglich ist, ungünstige Entwicklungen zu erkennen und die Familien adäquat zu unterstützen. Gemäss der nationalen Kinderschutzstatistik 2022 sind 46 Prozent der Fälle jünger als sechs Jahre bzw. bis 20 Prozent der Fälle jünger als ein Jahr.


Welche Auswirkungen kann das auf Kinder und ihre Zukunft haben?

Belastende Kindheitsereignisse können zu Störungen in der Entwicklung des Nervensystems, sozialen, emotionalen und kognitiven Einschränkungen, ja bis zu frühem Tod führen. Darum ist Kindesschutz in dieser Zeit der grossen Verletzlichkeit zentral. Aber auch die Investition in Unterstützungsmassnahmen in der frühen Kindheit ist ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Handlungsfeld der Prävention und der Gesundheitsförderung.


Wann ist das Kindeswohl bei einem Kleinkind gefährdet?

Die gängigste Definition sagt, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, sobald die ernstliche Möglichkeit besteht, dass das körperliche, psychische, seelische oder soziale Wohl des Kindes beeinträchtigt ist. Gemäss dieser Definition kann dies eine bereits erfolgte Beeinträchtigung des Kindes oder aber eine absehbare Gefährdung betreffen.


Welche Kinder sind am meisten gefährdet?

Ein aktueller Bericht von Kinderschutz Schweiz belegt, dass kleine Kinder besonders stark gefährdet sind, körperliche Gewalt zu erleben. Dies geht oft einher mit Überforderung und Stressbelastung der Eltern. Zudem ist Vernachlässigung die zweite Form von Gewalt, denen kleine Kinder häufig ausgesetzt sind. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die weitreichenden Folgen von Vernachlässigung viel zu stark unterschätzt werden. Wenn Bezugspersonen die Bedürfnisse der Kleinkinder nicht erkennen und entsprechend nicht adäquat darauf eingehen können, verunmöglicht dies, eine sichere Bindung zu den Bezugspersonen aufzubauen. Dies kann zu Bindungsstörungen führen und lang anhaltende Auswirkungen auf das Beziehungsverhalten haben.


Spielt psychische Gewalt auch eine Rolle?

Psychische Gewalt ist in der Altersgruppe der kleinen Kinder oft anzutreffen. Nicht zu vergessen sind aber auch Kinder, die unter der Gewalt zwischen ihren Eltern leiden. Auch kleine Kinder bekommen das schon sehr früh mit, was psychischer Gewalt gleichkommt. Folgen können beispielsweise Entwicklungsrückstände und später Schulschwierigkeiten sein. In der NZZ von vergangener Woche war zu lesen, dass jede zehnte Trennung in einem Streit um den Nachwuchs endet. Auch solche Konflikte belasten kleine Kinder massiv.


Wie erkennen aussenste hende Personen, dass dem Kind oder dessen Entwicklung geschadet wird?

Aufgrund ihrer letzten Fragen haben wir gesehen, dass Gewalt subtil sein kann und gerade bei kleinen Kindern schwierig zu erkennen ist. Im Kinderschutzzentrum versuchen wir dafür zu sensibilisieren, dass sehr oft zuerst ein ungutes Bauchgefühl oder Störgefühl anzeigt, dass etwas nicht stimmen könnte. Oft fällt in Eltern- oder Fachberatungen auf, dass rückblickend schon lange ein ungutes Gefühl da war, dies aber nicht eingeordnet, nicht logisch erklärt werden konnte. Das ist natürlich besonders bitter, wenn Eltern später erfahren, dass ihr Kind tatsächlich Opfer von Gewalt geworden ist, und sie hadern, warum sie nicht auf ihre Wahrnehmung gehört haben. Ein wiederkehrendes oder bleibendes Störgefühl sollte deshalb mit jemandem ausgetauscht werden oder zusammen mit einer Fachperson reflektiert werden.


Wie kann ein Kind geschützt werden?

Kleine Kinder brauchen vertraute, verfügbare und verlässliche Bezugspersonen. Da die frühe Kindheit für alle Eltern eine Herausforderung und anspruchsvoll ist, braucht es aber auch ein erweitertes Umfeld, das in diese Familienphase involviert ist. Ein tragfähiges, unterstützendes und somit ent lastendes Umfeld trägt zum Schutz und der gesunden Entwicklung des kleinen Kindes bei. So können sich die Eltern zusammen mit dem sozialen Umfeld gegenseitig entlasten und Mutter und Vater sich eine Auszeit nehmen, um aufzutanken oder Freunde zu treffen. Dies hilft den Eltern, sich wieder dem Kleinkind zuzuwen den und feinfühlig auf es ein zugehen.


Wie wichtig ist dabei die Rolle der Kinderbetreuerinnen oder Spielgruppenleiter?

Fast alle kleinen Kinder sind vor, während und nach der Geburt in ein gesellschaftliches System mit Gynäkologin, Geburtsvorbereitung, Hebamme, Kinderarzt, Mütter- und Väterberatung, später Spielgruppe, Kita usw. eingebunden. Wenn diese Personen und das soziale Umfeld im Sinne der letzten Frage wach und sensibel sind, ihrer Intuition und ihren objektiven Beobachtungen von Risiko- und Schutzfaktoren folgen, hat dies eine hervorragende Bedeutung für den Schutz und die Förderung des kleinen Kindes. Zudem erhöht dies die Chance, ungünstige Entwicklungen früh zu erkennen und die Familie früh für Unterstützung zu gewinnen. Mit dem Ziel, dass sie ihr Verhalten so verändern können, dass der Schutz und die Entwicklung des Kindes wieder gewährleistet ist.


Und wie können die Eltern eingebunden werden, damit das Kindeswohl gewährleistet ist?

Das ist im Kinderschutz der entscheidende Punkt. Optimal ist, wenn Eltern im Rahmen der Angebote rund um die frühe Förderung bereits gute Erfahrungen mit anderen Menschen und Fachpersonen machen konnten, ihnen vertrauen und die Erfahrung gemacht haben, dass sie ernst genommen und in die Lösungsfindung mit einbezogen werden. Das ist Voraussetzung, damit sich Eltern früh an weitere Personen wenden, wenn das private Umfeld nicht mehr ausreicht. Das Zauberwort heisst Kooperation: Damit sich Eltern auf eine Unterstützung einlassen, die sie befähigt, selbst Verhaltensänderungen und Schritte vorzunehmen. Dies mit dem Ziel, dass sie möglichst bald wieder die Autonomie über ihre Familie zurückgewinnen.


Sie sprechen am Vernetzungstreffen für Akteure im Bereich der frühen Kindheit in Liechtenstein. Was möchten Sie den Teilnehmenden vermitteln?

Ich möchte Mut machen und aufzeigen, wie wichtig jede einzelne der anwesenden Personen ist, um früh und genau hinzuschauen, um Signale und Anzeichen früh ernst und wahrzunehmen. Ausserdem will ich darauf hinweisen, wie wichtig die Frühe Förderung ist und diese auch als Auffangnetz zu verstehen ist, wenn in Familien etwas aus dem Gleichgewicht zu kommen droht. Ich zeige die bereits genannten Risiko- und Schutzfaktoren auf und weise auf die Wichtigkeit der Kooperation mit den Eltern hin.



*Ein Interview im Liechtensteiner Vaterland vom 7. November 2023. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Kinderschutzzentrum St. Gallen

Das Kinderschutzzentrum in St. Gallen ist eine Abteilungsgruppe des Ostschweizer Kinderspitals. Stiftungsträger sind die Kantone St. Gallen, Thurgau, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden sowie Liechtenstein. Das Kinderschutzzentrum ist eine Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche sowie Eltern und Drittpersonen. Nebst der Beratung ist es mit dem zweiten Standbein in der Weiterbildung und Prävention tätig. Aktuell wurde ein Flyer für die Akteurinnen und Akteure im Umfeld der frühen Kindheit publiziert.


Weitere Informationen

 
Zeitungsbericht zum Download
Interview Liechtensteiner Vaterland vom 7. November 2023
.pdf
PDF herunterladen • 462KB



Wertvolle Links


bottom of page