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«Kinderschutz ist Erwachsenensache»

Das Amt für Soziale Dienste führt im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen eine Kooperation mit dem ifs Kinderschutz Vorarlberg. Leiterin Jutta Lutz-Diem erklärt, wie Kinder auf mögliche sexuelle Übergriffe vorbereitet werden können und welche Möglichkeiten Aussenstehende haben.

Jutta Lutz-Diem leitete viele Jahre den Jugendtreff in Balzers, bevor sie zum ifs Kinderschutz wechselte. (Foto: ZVG)

Einmal täglich zu den Themen Grenzverletzungen, Übergriffe, oder Verdacht auf sexuellen Missbrauch kontaktiert

Eine Statistik für Liechtenstein ist Jutta Lutz-Diem zwar nicht bekannt, aber im Vergleich: Österreichweit gibt es jährlich rund 10'000 Fälle, die öffentlich werden. Von den Betroffenen sind 7'500 Mädchen und 2'500 Buben. Der ifs Kinderschutz Vorarlberg wird im Schnitt einmal täglich zu den Themen Grenzverletzungen, Übergriffe, oder Verdacht auf sexuellen Missbrauch kontaktiert. Im Jahr 2021 wurden 11 Personen bei 9 (Verdachts-)Fällen im ifs Kinderschutz beraten. Davon waren 7 Anrufe von Privatpersonen und 4 Anrufe von Fachpersonen. Laut Jutta Lutz-Diem ist die Dunkelziffer von sexuellen Grenzüberschreitungen aber um einiges höher.


Präventionsarbeit ist unabdingbar, um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen

Sexuelle Gewalt wird vermehrt in der Öffentlichkeit diskutiert und verliert ein wenig den Status als Tabuthema. Aktuell führt Jutta Lutz-Diem in Liechtenstein Schulungen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Kinderbetreuung durch. Übergriffige Erwachsene wissen, dass sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen verboten sind. Nun muss mit den Kindern darüber gesprochen werden, dass nicht alles, was Erwachsene tun, richtig ist und dass sie jederzeit «Nein» sagen dürfen. Für Lutz-Diem ist Präventionsarbeit das Um und Auf.


Die Kinder müssen wissen, dass sie «Nein» sagen dürfen.

Kindern Selbstvertrauen vermitteln

Bei der Sensibilisierung der Kinder geht es darum, den Kinder Selbstvertrauen zu vermitteln, damit sie sich trauen, ihre Grenzen mit einem «Halt» oder «Stopp» einzufordern. Jutta Lutz-Diem und ihr Team sprechen dabei nicht über einen sexuellen Missbrauch, sondern über Körpergrenzen. Mit den Themen «Mein Körper gehört mir», «Gute Gefühle, schlechte Gefühle», «Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse» erfahren die Kinder viel über sich selbst und das Zusammenleben mit Erwachsenen. In ihrer täglichen Arbeit haben sie oft mit Kindern zu tun, die bei den Workshops in der Primarschule plötzlich feststellen, dass Erwachsene manchmal Grenzen überschritten haben. Je früher mit der Präventionsarbeit begonnen wird, desto besser.


Schutzkonzepte und Verhaltenscodex helfen Institutionen im Umgang mit Verdachtsfällen

Laut Lutz-Diem ist es sehr wichtig, dass sich alle Institutionen – seien es Kindertagesstätten, Schulen oder auch Vereine Gedanken über Schutzkonzepte machen. Und sei es nur, damit festgelegt wird, wie mit einem Verdacht umgegangen werden soll und wer wann informiert werden muss.


Ein «Stopp» muss in jeder Situation respektiert werden

Eltern oder ältere Geschwister sollten lernen, die Grenzen der Kinder zu akzeptieren. Es gibt zum Beispiel die Kitzelspiele, die zu Beginn lustig sind, doch irgendwann kippt die Situation, und das Kind schreit «aufhören», oder «ich will nicht mehr», doch der andere kitzelt einfach weiter. Hier werden bereits Grenzen nicht respektiert. Es benötigt von beiden Seiten eine Sensibilität. Zum einen, dass ein «Halt», «Stopp» nicht übergangen werden darf, zum andern, dass sich das Kind traut, klar und laut «Nein» zu sagen. Genauso kann dem Kind vermittelt werden, dass es selbst entscheidet, wer seinen Körper berührt. Eine Umarmung von der Mama ist etwas anderes als beispielsweise von einem 40-jährigen Onkel. Auch hier sollten die Kinder «Nein» sagen dürfen. Das hat noch gar nichts mit sexuellem Missbrauch zu tun, sondern mit Grenzüberschreitungen, die für die Kinder vielleicht unangenehm sind.


Eltern sollten ihre Kinder ermutigen, selbst zu entscheiden, wer sie berühren darf und wer nicht. Das ist die beste Prävention, um später mögliche sexuelle Übergriffe abzuwehren.

Vermeintlich harmlose Onlinespiele sind eine Tummelwiese für Erwachsene mit falschen Absichten

Insbesondere während der Coronazeit hat sich viel ins Internet verlagert. Jutta Lutz-Diem rechnet damit, dass die Beratungsstelle viele Grenzüberschreitungen, die im Internet passiert sind, erhalten werden. Im Internet gibt es vermeintlich harmlose Onlinespiele,

bei denen Kinder und Jugendliche online mit ihren Spielpartnern chatten oder sich unterhalten. Dort wo sich Kinder aufhalten, können sich auch Erwachsene aufhalten und für Personen, die nichts Gutes mit Kindern vorhaben, sind solche Onlinespiele eine Tummelwiese. Jutta Lutz-Diem warnt vor diesen Onlinespielen, vor allem dann, wenn sie nicht von Erwachsenen begleitet werden.


Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, Kinder vor Übergriffen im Internet zu schützen

Kinder und Jugendliche müssen über die Gefahren im Internet Bescheid wissen. Je kleiner die Jungen und Mädchen sind, desto wichtiger. Eltern sollten immer ein Auge darauf haben, wie das Internetverhalten von ihren Kindern ist. Jutta Lutz-Diem erlebt oft, dass Kinder mit elf, zwölf Jahren ein Handy bekommen und die Eltern dann aussen vor sind. Doch genau an diesem Punkt beginnt die Medienerziehung. Es häufen sich zum Beispiel die «Snapchat-Fälle». Die Social-Media-Plattform Snapchat wiegt seine Nutzer in Sicherheit, weil ein Foto nur wenige Sekunden sichtbar ist, das gilt aber nicht für einen Screenshot – und dann kann das Foto auch an andere verschickt werden.

Kinder müssen wissen, dass es im Internet Gefahren gibt und, dass nicht jeder, der behauptet zwölf Jahre zu sein, auch wirklich zwölf Jahre ist.

Kinderschutz ist Erwachsenensache, es ist Aufgabe von uns Erwachsenen, die Kinder zu begleiten und zu schützten. Lutz-Diem fordert in diesem Bereich noch mehr Anstrengungen in Richtung Prävention.


Sexueller Missbrauch findet hauptsächlich im engeren Umfeld statt

Zum allergrössten Teil passiert sexueller Missbrauch im engeren, familiären Umfeld. In weit über 90 Prozent der Fälle besteht zwischen Täter und Opfer ein Naheverhältnis und ganz viele Opfer leben mit dem Täter sogar unter dem eigenen Dach. Daher rechnet Lutz-Diem auch damit, dass die Dunkelziffer von sexuellen Überschreitungen sehr hoch ist. Für Aussenstehende gibt es leider keine eindeutigen Anzeichen, die auf sexuelle Übergriffe schliessen lassen können. Verschiedene Verhaltensänderungen können aber lediglich darauf hindeuten, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt. Zum Beispiel, wenn sich Kinder, die früher aufgeschlossen waren, plötzlich zurückziehen, wenn sich die Leistungen in der Schule gravierend verschlechtern, oder die Kinder plötzlich einnässen oder einkoten, oder somatische Beschwerden wie Bauchweh, Kopfweh oder Übelkeit zeigen, sind das Veränderungen, die die Erwachsenen hellhörig werden lassen sollten. Die Ursache dafür muss aber nicht immer ein sexueller Missbrauch sein. Hellhörig sollte man auch bei Personen sein, die sich übermässig um ein Kind bemühen, es gegenüber anderen Kindern bevorzugen und ausschliesslich ihm Geschenke machen.


Aussenstehende sollten sich nicht davor scheuen, sich einzumischen

Viele Menschen denken sich «Das geht mich nichts an». Das zeigt sich zum Beispiel schon im Supermarkt, wenn eine Mutter ihr Kind am Arm quer durch den Laden zieht, oder es an der Kasse anschreit. Natürlich sind Kinder beim Einkaufen manchmal stressig und Eltern dann vielleicht überfordert. Aussenstehende sollten sich aber nicht davor scheuen, sich einzumischen. Es geht darum, die Situation zu entschärfen.


Zivilcourage ist sehr wichtig. Das Kind sieht so, dass es Erwachsene gibt, die nicht wegschauen.

Viele werden in unserer Kultur dazu erzogen, sich nicht in die Privatsphäre anderer einzumischen. Das betrifft auch die häusliche Gewalt, wenn man die Nachbarn schreien oder streiten hört. Oft sind dabei auch Kinder betroffen, die häusliche Gewalt selbst erleben oder miterleben müssen. Wenn jemand eine Kindeswohlgefährdung wahrnimmt, soll oder muss er/sie sogar reagieren. Am besten informiert man sich einer Beratungsstelle, wendet sich an das Amt für Soziale Dienste oder ruft die Polizei.


Denn: Kinderschutz ist Erwachsenensache.

Das ganze Interview mit Jutta Lutz-Diem ist im Liechtensteiner Volksblatt erschienen.

 

Wertvolle Links

Interview im Volksblatt zum Download
Jutta Lutz-Diem im Interivew mit Volksblatt
.pdf
Download PDF • 572KB

Zur Person

Jutta Lutz-Diem

Leiterin ifs Kinderschutz Vorarlberg

T +423 236 7227












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