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«Egal wie blöd ein Kind tut – es hat trotzdem ein Recht, nicht geschlagen zu werden»

Die Psychotherapeutin Sophia Fischer stellt fest, dass die Spannungen im Familienalltag seit Beginn der Corona-Pandemie zunehmen. Sie spricht mit dem Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi über Schläge als Erziehungsmittel, überforderte Eltern und das Schweigen der Kinder.


Kinder als Zeugen von Paargewalt


Das Miterleben von Gewalt zwischen den Eltern kann genauso negative Einflüsse auf die kindliche Entwicklung haben, wie wenn das Kind am eigenen Leib Gewalt erfahren würde. Die Folgen sind ähnlich.


Vor allem in hochbelasteten Familien kommt es zu häuslicher Gewalt


Häusliche Gewalt ist meist ein Thema in hochbelasteten Familien. Dort, wo Risikofaktoren wie Arbeits­losigkeit, finanzielle Sorgen, soziale Isolation aufgrund von Migration gehäuft vorkommen, ist die Wahr­scheinlichkeit, dass es zu häuslicher Gewalt kommt, sehr viel grösser. Aber es kann genauso gut sein, dass in einer Oberschichtfamilie ein Elternteil psychisch erkrankt, was zu vermehrtem Stress und auch zu Gewalt führen kann. Die Frage, wel­che Konfliktlösungsstrategien wir erlernt haben und wie wir mit Stress umgehen können, ist grundsätzlich entscheidender als die Frage, welcher Schicht wir angehören.


Erlebte Gewalt führt oft dazu, dass die Kinder später selbst Gewalt anwenden


Bei Menschen, die als Kind Gewalt erlebt haben, ist das Risiko gross, dass sie später selbst Gewalt anwenden. Denn in Stresssituationen greifen wir auf das Verhalten zurück, das wir gelernt haben. So üben Buben, die geschlagen wurden oder Zeugen von Gewalt unter den Eltern waren häufig in späteren Beziehungen selbst Gewalt aus und Mädchen finden sich nicht selten in Beziehungen wieder, in denen ihnen Gewalt angetan wird.


Die Folgen körperlicher Gewalt sind «dosisabhängig»


Je höher die Intensität und je länger die Dauer des Gewalterlebens, desto schwerwiegender können die Auswirkungen sein. Ausserdem reagieren Kinder häufiger mit Belastungen, wenn die Gewalt ausübende Person die eigene Mutter, der eigene Vater, sprich eine enge Bezugsperson ist. Schutzfaktoren spie­len ebenso eine Rolle.


Fördernde und schützende Faktoren wie ein stabiles, unterstützendes soziales Umfeld oder Erfahrungen von Selbstwirksamkeit beeinflussen positiv, wie Kinder mit Belastungen umgehen.

Wenn ein Kind grundsätzlich Vertrauen zu den Eltern hat und diese mit ihm auch über ihr «Ausrasten» sprechen und sich dafür ent­schuldigen, dann hat es ganz andere Möglichkeiten, dies zu verarbeiten. Wird die Gewalt nie thematisiert, werden die Eltern für das Kind unberechenbar. Es bezieht das Geschehene dann auf sich selbst und nimmt die Schuld auf sich. Das ist äusserst belastend für das Kind und gefährdet seine gesunde Entwicklung.


Kinder, die Gewalt erleben, leiden unter Ängsten und haben ein geringes Selbstwertgefühl


Häufig haben diese Kinder Proble­me damit, Emotionen zu regulieren. Viele leiden unter Ängsten, Schlafstörungen, haben ein geringes Selbstwertgefühl, schä­men sich. Manche Kinder müssen auch in der Schule immer daran denken, was zu Hause passiert ist, und können sich nicht konzentrieren, was ihre Lernfähigkeit beeinträchtigt. In Freundschaften neigen sie zu gewalttäti­gen Auseinandersetzungen. Die Folgen von Gewalterleben können auch noch Jahre später auftreten.


Prävention ist dringend notwendig


Es gibt keine eindeutigen Indikatoren, die zeigen, dass ein Kind von Gewalt betroffen ist. Deshalb ist die Prävention so wichtig, sei es durch den Aufbau eines guten Aufklärungs- und Unterstützungsangebotes, polizeiliche Intervention oder die Sensibilisierung von Fachstellen. Belastete Familien brauchen mehr Unterstützung und Bewältigungsstrategien. In Beratungsgesprächen müssen Fra­gen wie «Was gibt es für Alternati­ven zu Gewalt in der Erziehung?» « Was passiert da mit mir, wenn ich das tue?», «Was hat mein Verhalten für Auswirkungen?» besprochen werden.


Es ist sehr wichtig, das Tabu zu brechen, ein­fach mal darüber zu reden, ohne ihr Verhalten gleich zu verurteilen, und sie dafür zu sensibilisieren, dass die Kinder oft sehr viel mehr mitbe­kommen, als wir unmittelbar erken­nen können oder sie uns mitteilen.

Kinder sind darauf angewiesen, dass Hilfe von Aussen kommt


Babys und Kleinkinder sind völlig abhängig von ihren Eltern, auch körperlich. Sie sind ihnen regelrecht ausgeliefert und verfügen nicht über die basalen Fertigkeiten, mit denen wir Erwachsene auf Stress reagieren: Kampf oder Flucht. So haben sie keine Chance, sich abzuwenden oder aktiv Einfluss zu nehmen. Viele dieser Kinder reagieren mit einer Art Erstarrung. Sie schalten einen Teil ihrer Wahrnehmung ab, was chronisch werden und in Stress­situationen immer wieder auftreten kann.

Ältere Kinder haben mehr Möglich­keiten, sie sind meist viel aktiver, manche gehen dazwischen, wollen das betroffene Elternteil beschützen. Aber auch dieses Aktivsein schützt sie leider nicht vor den Folgen von Gewalt. Kinder sind darauf angewie­sen, dass Hilfe von Aussen kommt.


Bei Kontrollverlust über das eigene Verhalten, unbedingt handeln und Hilfe holen


Wenn man das Gefühl hat, man ver­liere die Kontrolle über das eigene Verhalten, wenn in einer Stresssitu­ation die ganze Palette an möglichen Reaktionen ausgeschöpft ist und nur noch Schreien oder körperliche Gewalt bleibt, muss man sich unbedingt Hilfe holen. Das Gefühl «Ich kann mein Verhalten nicht mehr kontrol­lieren» ist ein wichtiges Alarmsignal.


Publikation mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Elternsein, Zürich


 

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Zur Person

Sophia Fischer ist Psychotherapeutin mit Vertiefung Traumapädagogik und Traumatherapie und arbeitet im Kinder- und Jugenddienst (KJD) des Kantons Basel-Stadt als Leiterin des Fachbereichs Psychologie.

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